Flüchtlingsproteste Oranienplatz und Gerhart-Hauptmann-Schule
- Chronologie, Forderungen, Dokumente -

Der Flüchtlingsrat Berlin hat den selbstorganisierten Widerstand der Geflüchteten auf dem Oranienplatz und ihre Forderungen nach Abschaffung der Residenzpflicht, dem Arbeitsverbot und der DUBLIN-Verordnung sowie die Forderungen nach freiem Arbeitsmarktzugang und EU-weiter Freizügigkeit von Beginn an unterstützt. Das Protestcamp am Oranienplatz war Endpunkt des selbstorganisierten Flüchtlingsprotestmarschs von Würzburg nach Berlin im September 2012. Ausdruck der Entschlossenheit und Verzweiflung waren Hungerstreiks der Flüchtlinge am Brandenburger Tor im Oktober/November 2012 und im Oktober 2013.

Die seit Dezember 2013 immer lauter werdenden Räumungsforderungen des Berliner Innensenators kritisierte der Flüchtlingsrat scharf und forderte Lösungen statt Räumung. Im Februar 2014 gab es einen Brandanschlag auf das Camp. Bis zu seiner Räumung im April 2014 war das Protestcamp am Oranienplatz über 18 Monate hinweg der zentrale Ort selbstorganisierter Flüchtlingsproteste in Deutschland und Symbol der gescheiterten deutschen und europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik.


Im Dezember 2013 forderte der Flüchtlingsrat den Berliner Senat auf, mit den Geflüchteten des Protestcamps das Gespräch zu suchen, um politische Lösungen und aufenthaltsrechtliche Perspektiven zu finden. Im Januar 2014 nahm Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) im Auftrag des gesamten Berliner Senats mit einer Delegation der Oranienplatz-Flüchtlinge Verhandlungen über die Zukunft der Flüchtlinge und des Protestcamps auf. Der Flüchtlingsrat nahm an diesen Verhandlungen beratend teil. Ziel der Gespräche sollte es sein, für alle Flüchtlingsgruppen auf dem Oranienplatz eine Lösung zu finden. Zugesagt wurden die großzügige Prüfung der Erteilung humanitärer Aufenthaltserlaubnisse sowie die Umverteilung Asylsuchender im noch laufenden Verfahren nach Berlin. Im Gegenzug sollten die Zelte des Protestcamps abgebaut werden.

Der Flüchtlingsrat hatte der Integrationsenatorin im Verlauf der Verhandlungen mit anwaltlicher Unterstützung die jeweils vorhandenen rechtlichen Möglichkeiten zur Legalisierung des Aufenthalts der Oranienplatz-Flüchtlinge im Detail dargelegt. Siehe zu den damit verbundenen Rechtsfragen etwa auch den Beitrag "Gekommen, um zu bleiben!? Flüchtlingsproteste in Hamburg und Berlin: Zu den Voraussetzungen gruppenbezogener Aufenthaltstitel nach den geltenden Bestimmungen des AufenthG" von Dr. Ibrahim Kanalan.

Mitte März 2014 präsentierte der Senat dann überraschend ein "Einigungspapier". Das Papier wurde von der Mehrheit der Geflüchteten vom Oranienplatz abgelehnt, da noch viele Fragen hinsichtlich Unterbringung, Leistungsbezug und Verfahrensablauf zu klären waren. Dies hinderte den Senat nicht daran, das Papier in der Öffentlichkeit als Einigung zwischen Senat und Flüchtlingen zu präsentieren.

Das Papier beinhaltet keine verbindlichen Angebote für die Flüchtlinge und berücksichtigt auch nicht alle Flüchtlingsgruppen vom Oranienplatz. Das Papier berücksichtigt weder die Personen, die einen abgelehnten Asylantrag in anderen Bundesländern haben noch diejenigen, die sich in anderen Bundesländern noch im Asylverfahren befinden. Die von Frau Kolat in den Verhandlungen stets zugesicherte Umverteilung nach Berlin für alle Oranienplatz-Flüchtlinge, die eine Wohnsitzauflage für ein anderes Bundesland hatten, lässt sich in dem Papier ebenso wenig wieder finden, wie die zugesagte wohlwollenden Prüfung der Anträge auf Aufenthaltserteilung aus humanitären Gründen.

Der Flüchtlingsrat forderte die Wiederaufnahme der Gespräche, um die noch offenen Fragen zu klären und eine einvernehmliche Lösung für alle Flüchtlingsgruppen zu erreichen, zumal zunächst lediglich drei von acht Delegationsmitglieder unterschrieben hatten. Der Flüchtlingsrat wies daraufhin, dass die Geflüchteten auf Grundlage der vom Senat präsentierten Schein-Einigung das Protestcamp nicht freiwillig räumen.

Der Senat hielt dennoch an seinem Einigungspapier fest. Das Angebot von Unterkunft, Verpflegung und rechtlicher Beratung wurde davon abhängig gemacht, dass der Platz komplett geräumt wird. Am 8. April 2014 wurde der Oranienplatz gegen den Willen der Mehrzahl seiner Bewohner_innen polizeilich geräumt. Eine Einigung, hinter der wie von Frau Kolat behauptet 80% aller Flüchtlinge stehen, hätte keinen Polizeieinsatz erfordert. Siehe dazu auch die Stellungnahme des Flüchtlingsrates Berlin vom 16.04.2014 zur Räumung des Oranienplatzes.


Was folgte war die Fortsetzung einer Chronologie des Unwillens:

•    Die Registrierung, Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge vom Oranienplatz gestaltete sich chaotisch. Über Wochen hinweg wurden viele Menschen nicht untergebracht und erhielten auch nicht die ihnen zugesicherten "freiwilligen" Leistungen zum Lebensunterhalt.

•    Der Senat verweigerte sämtlichen Teilnehmer_innen der "Vereinbarung", auch denjenigen die Unterkunft und Unterhaltsleistungen erhielten, rechtswidrig jegliche Leistungen zur Krankenbehandlung. Leider erst später bestätigte auch das Sozialgericht die Rechtswidrigkeit der Haltung des Senats.

•    Die Innenverwaltung misst dem "Einigungspapier" keine rechtliche Bedeutung zu. Dabei bestätigt ein von der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen bei Prof. Fischer-Lescano (Universität Bremen) in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten ausdrücklich den rechtsverbindlichen Charakter des "Einigungspapiers" und den Anspruch auf Duldungserteilung vor dem Hintergrund der faktischen Duldung des Protestcamps über 18 Monate hinweg und des mit dem Senat ausgehandelten "Einigungspapiers Oranienplatz". Der Innensenator gab daraufhin bei Prof. emerit. Hailbronner (Universität Konstanz) ein Gegengutachten in Auftrag.

•    In keinem einzigen Fall ist einer Umverteilung nach Berlin zugestimmt wurden und in keinem Fall gab es einen Abschiebeschutz. So geriet im Mai 2014 ein Teilnehmer anlässlich der Verlängerung seiner Duldung in Sachsen-Anhalt überraschend in Abschiebungshaft. Ein weiterer Teilnehmer kam im August 2014 in Abschiebungshaft. In diesem Fall befand das Landgericht Magdeburg, dass das Land Berlin gegenüber dem Geflüchteten jedenfalls den Anschein erweckt habe, für ihn zuständig zu sein und ordnete an, den Flüchtling aus der Haft zu entlassen.

•    In keinem einzigen Fall wurde eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erteilt. Lediglich zwei Aufenthaltserlaubnisse wurden zum Zweck der Beschäftigung erteilt, beide Geflüchteten besaßen jedoch bereits zuvor eine Erlaubnis zum "Daueraufenthalt-EU" aus einem anderen EU-Staat, die auch bereits das Recht der EU-weiten Freizügigkeit als Arbeitnehmer beinhaltete (§ 38a AufenthG).


Der Oranienplatz wurde als Ort des Protestes im April 2014 von der Polizei geräumt. Mitte Juni 2014 verließ ein Großteil der Geflüchteten angesichts tagelanger Belagerung und Einkesselung des Gebäudes durch einen massives Polizeiaufgebot auch die Gerhart-Hauptmann-Schule. Sie alle haben ihren Teil der Vereinbarung erfüllt.

Doch die Ausländerbehörde prüfte nicht wie in der Vereinbarung zugesichert jeden Einzelfall "umfassende im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten". Stattdessen folgte schon bald von einem Tag auf den anderen der überraschende Rausschmiss aus den vom Senat zunächst bereit gestellten Ersatzunterkünften. Trotz teilweise noch anhängiger ausländerrechtlicher Verfahren wurden die in Ersatzunterkünften untergebrachteten Menschen von der Sozialverwaltung sukzessive in die Obdachlosigkeit ausgesetzt. Dabei war und ist die Verweigerung jeglicher Leistungen zur Unterkunft, soziale und medizinische Existenzsicheurng und damit auch das Aussetzen in die Obdachlosigkeit rechtswidrig, wie später das Sozialgericht bestätigte.

In einem gemeinsamem offenen Brief vom 22. Juli 2014 forderten der Flüchtlingsrat, der Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein, das Komitee für Grundrechte und Demokratie, Pro Asyl und die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen den Regierenden Bürgermeister Wowereit, Innensenator Henkel und Integrationssenatorin Kolat auf, Stellung zu beziehen: "Wollen Sie Flüchtlinge schützen, oder wollen Sie es nicht?"


Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die restlichen in der Gerhart-Hauptmann-Schule verbliebenen Bewohner_innen kein Vertrauen mehr in staatliches Handeln haben. Dem Wortbruch des Senats folgte der Wortbruch des Bezirks. Im Juli 2014 haben die nach der Räumung in der Schule verbliebenen Bewohner_innen mit dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg eine Vereinbarung getroffen. Dem vorausgegangen war die tagelange auf Zermürbung setzende Belagerung der Schule durch die Polizei, um die BewohnerInnen zum Verlassen des Gebäudes zu bringen.

Die Vereinbarung wurde inzwischen vom Bezirk de fakto einseitig aufgekündigt. Alle Bewohner_innen wurden im Oktober 2014 aufgefordert, die Schule zu verlassen. Dagegen klagen einige Bewohner. Das Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg und das Verwaltungsgericht Berlin entschieden vorläufig, dass die Kläger weiter in der Schule wohnen dürfen. Aufgrund der mit dem Bezirk geschlossenen Vereinbarung stehe den Klägern ein Nutzungsrecht zu. Im Mai 2015 entschied das Verwaltungsgericht erneut, dass eine polizeiliche Räumung unzulässig sei. Es handele sich nicht um eine gewöhnliche Besetzung, da der Bezirk die Nutzung zunächst gestattet habe. Eine Räumung könne deshalb nur auf zivilrechtlichem Weg durchgesetzt werden.

Das Verwaltungsgericht Berlin erklärte auch die Umverteilung eines "Lampedusa-Flüchtlings" von Berlin nach Bayern im Rahmen des Oranienplatz-Verfahrens für rechtswidrig. Es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der nach § 15a AufenthG ergangenen Zuweisung nach Bayern. Der Teilnehmer könne sich auf das "Einigungspapier Oranienplatz" berufen. Bei dem Papier handele es sich nicht lediglich um eine unverbindliche politische Absichtserklärung, von der keinerlei Rechtswirkung ausgeht. Die Einigung sei vielmehr dahingehend auszulegen, dass es für die Betroffenen eine "umfassende Prüfung" im Rahmen "aller rechtlichen Möglichkeiten" geben solle und alle rechtlichen Entscheidungsspielräume ausgeschöpft würden. Mit dem Grundsatz von Treu und Glauben sei es nur schwer zu vereinbaren, der Einigung nachträglich keinerlei rechtliche Bedeutung beizumessen. Schließlich habe der Sinn und Zweck der Vereinbarung darin gelegen, den Platz zu räumen und dafür gewisse Zugeständnisse an die Betroffenen zu machen.

Die Geflüchteten haben sich mit der Räumung des Oranienplatzes und dem Verlassen der Gerhart-Hauptmann-Schule an ihren Teil der Vereinbarung gehalten. Die BewohnerInnen der Schule zeigten sich gegenüber dem Bezirk stets gesprächsbereit. Die Ergebnisse der aufenthaltsrechtlichen Prüfungen und das Handeln des Bezirks zeigen den Unwillen von Senat und Bezirk, sich an ihren Teil der Vereinbarungen zu halten.

Der Flüchtlingsrat Berlin fordert das Land Berlin auf, die Legitimität der Proteste der Geflüchteten anzuerkennen. Statt ordnungspolitischer Lösungen sind humanitäre Lösungen auf Augenhöhe gefragt. Dies beinhaltet seitens der staatlichen Behörden sowohl Dialogbereitschaft als auch die Bereitschaft, die vorhandenen ausländerrechtlichen Spielräume zu Gunsten der geflüchteten Menschen anzuwenden.

Zusammenstellung: Flüchtlingsrat Berlin, Dezember 2014, Nachtrag Mai 2015